02/07/2024 0 Kommentare
Auf Konzertreise im Waldecker Land
Auf Konzertreise im Waldecker Land
# Kirchenmusik

Auf Konzertreise im Waldecker Land
Im Herbst sind die Chöre der Kirchengemeinde Woltersdorf unterwegs. Das ist immer so. Normalerweise geht es für die Sängerinnen und Sänger dann zu einem Probenwochenende in der Region. Nicht so in diesem Jahr. Nach 2019 soll es zum zweiten Mal auf Konzertreise gehen. Das Ziel: das Waldecker Land im nördlichen Zipfel Hessens.
Also brechen der Jugendchor vocalis und der Chor canto corale am langen Wochenende rund um Erntedankfest und Tag der deutschen Einheit auf, in Richtung Kassel und Waldecker Land, ein ganzer Bus voller musikalischer Botschafter für Ostbrandenburg. Nach rund sechs Stunden Fahrt kommt der Edersee in Sicht, an dessen Ufer sich die Jugendherberge Waldeck befindet, die für vier Tage das Domizil der Chöre wird. Das milde Herbstwetter sorgt dafür, dass schon wenige Minuten nach Ankunft die ersten im See schwimmen, eine willkommene Abkühlung nach der langen Busfahrt. Viel Zeit bleibt aber nicht, denn schon steht das erste Konzert der Reise in der Stadtkirche Waldeck an. Waldeck, das ist der Stammsitz der gleichnamigen Grafschaft und späteren Fürstentums, gelegen auf einer Höhe über dem Edersee. Die Straße von der Jugendherberge in den Ort erinnert eher an alpine Aufstiege als ans Mittelgebirge. In engen Serpentinen schlängelt sich die schmale Straße den Berg hinauf, für Busfahrer Sebastian eine echte Herausforderung.
In Waldeck dann eine schlechte Nachricht: Der Waldecker Pfarrer ist am Abend vorher mit dem Fahrrad gestürzt und liegt im Krankenhaus. Zum Glück springt der Kirchenvorstand ein, alles ist bestens organisiert und die ersten Töne hallen während der kurzen Probe durch die Stadtkirche. Die beeindruckende Akustik der doch eher kleinen Kirche lässt die Musiker staunen. Am Abend erklingen dann beim ersten Konzert die Stimmen von vocalis und canto corale in der Waldecker Stadtkirche. Das Programm beginnt canto corale weltlich mit Werken von John Dowland und Thomas Morley, wechselt dann zu O magnum mysterium von Tomas Luis de Victoria sowie zu zeitgenössischen Stücken wie Ubi caritas von Maurice Duruflé oder Flow Water von Damien Kehoe. Dann breitet sich erwartungsvolle Stille aus, als die gerade mal acht Sängerinnen des Jugendchors vocalis den Chorraum betreten. Ein Kyrie von Audrey Snyder, Ausschnitte aus der Missa Africana von Michael Schmoll und I Sing Holy von Lorenz Meierhofer in Verbindung mit der Akustik der Waldecker Kirche beeindrucken die Zuhörer sichtlich. Der gemeinsame Auftritt beider Chöre ist Abschluss und Höhepunkt des Konzerts. Die modernen Stücke von Karl Jenkins (Adiemus/Cantate Domino), Christina Aguilera (Say Something) und Glen Ballard/Siedah Garrett (Man In The Mirror) begeistern das Publikum, das mit stehenden Ovationen eine Zugabe fordert. Zauberhafter Klang breitet sich in der Stadtkirche aus, als Chief Seattle Cycle erklingt, ein Lied nach Worten des indigenen Häuptlings Seattle, bei dem nach und nach immer mehr Sängerinnen und Sänger einstimmen und nicht nur von der Bühne im Chorraum, sondern in der gesamten Kirche verteilt singen. Ein einzigartiges Fühlen von Musik.
Der Sonntag beginnt mit einem Besuch der Stadt Bad Arolsen. Dort errichtete der waldeckische Graf und spätere Fürst zu Beginn des 18. Jahrhunderts sein neues Residenzschloss als modernen Nachfolger des burgartigen Schlosses in Waldeck. Und plante gleich eine neue Stadt dazu: Arolsen. Die Realisierung der weitreichenden Stadtplanungen scheiterte dann am Geld. Das Schloss (und es war nicht das einzige Schlossbauprojekt des Fürsten) verschlang so viel Geld, dass die umgebende Stadt nur in geringen Teilen wie geplant errichtet werden konnte. Bei einer Stadtführung erhalten die Sängerinnen und Sänger einen Einblick in die Geschichte der Stadt und des Schlosses. Danach bleibt Zeit für einen Schlossbesuch. Oder für ein Eis. Sommerliches Wetter am Erntedanksonntag lädt geradezu dazu ein. Danach geht es weiter in die Nachbarstadt Volkmarsen, gelegen am südlichen Rand der Warburger Börde. Dort werden die Chöre bereits erwartet: Pfarrerin Holk lädt ein zu Kaffee und Kuchen, bevor die Probe in der evangelischen Kirche beginnt. Neue Kirche, neue Akustik, auf die sich Chor, Jugendchor und auch Chorleiter Frank Müller-Brys einstellen müssen. Das gelingt den Musikern schnell und es ist spürbar, dass die Aufmerksamkeit der Chöre noch besser ist als am Vortag, als beim Konzert auch die Anstrengung der Reise spürbar war. Obwohl das Programm gleich ist, wirken viele Stücke noch präziser, noch eindrücklicher. Auch das Volkmarser Publikum feiert vocalis und canto corale mit langem, begeistertem und stehendem Applaus und lässt die Sängerinnen und Sänger nicht ohne Zugabe von der Bühne.
Das dritte Konzert am Montag ist nicht nur das letzte der Reise, sondern auch ein besonderes: ein Begegnungskonzert mit dem Chor der Matthäuskirche in Kassel-Niederzwehren. Vorher ist noch Zeit für einen Besuch des Bergparks Wilhelmshöhe und des Herkules, von dem man einen herrlichen Blick über die nordhessische Großstadt Kassel hat. Ein Aufenthalt in der Innenstadt erlaubt einen kurzen Bummel durch die Fußgängerzone. Oder ein Eis…
Die Herausforderung beim Begegnungskonzert: Natürlich soll auch gemeinsam gesungen werden. Also nicht nur neue Kirche, neue Akustik, sondern auch: neuer Chor. Aber Musiker verstehen sich meist nach wenigen Minuten und nach ein bisschen Einstellung auf die Chorleiterin des Kasseler Chores musizieren drei Chöre in der Matthäuskirche. Der Chor aus Niederzwehren eröffnet das Begegnungskonzert mit Variationen zu Schuberts „Die Forelle“ und Leonard Cohens Hallelujah. Danach begeistern auch in Kassel die Sängerinnen und Sänger aus Woltersdorf das Publikum mit ihrem – etwas verkürzten – Programm. Den Abschluss des Begegnungskonzerts bildet der gemeinsame Auftritt der drei Chöre. You Raise Me Up und Adiemus erklingen kraftvoll im Kirchenraum und sorgen auch hier für stehenden Applaus. Die Zugabe irritiert die Zuhörer zunächst: Die Sängerinnen und Sänger verschwinden, Frank Müller-Brys steht ganz allein vor dem Altar. Dann erklingt Chief Seattle Cycle von der umlaufenden Empore der Matthäuskirche. Ein ganz besonderer Moment für Musiker und Zuhörer.
Den Abschluss in Kassel bildet ein gemütliches Miteinander der drei Chöre. Schnell sitzt man bunt gemischt, tauscht sich bei einer kleinen Stärkung aus und erfährt so etwas über Kassel und Niederzwehren. Musik verbindet. Das kann man hier erleben.
Am Abreisetag fehlt die Sonne der vergangenen Tage. Wie das Wetter sind auch die Sängerinnen und Sänger ein bisschen traurig, dass die Heimreise schon bevorsteht. Wunderschöne Konzerte im Waldecker Land und in Kassel bei tollem, frühherbstlichem Wetter bleiben ebenso in Erinnerung wie der schöne Blick aus der Jugendherberge über den Edersee im Morgennebel. Und schon auf der Rückfahrt beginnen einige zu planen für die nächste Konzertreise. Wo es wohl hingeht?
Achim Schneider
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